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Der erste Avatar, dem ich in einem Web based training begegnet bin, war eine Avatarin.

Sie hieß Tina Tyre (!) und war als üppige 3D-Blondine für den Reifenbauer Continental unterwegs. Tina war vor meiner Zeit entstanden, ich nehme an als Ergebnis der enthusiastischen Kooperation eines männlichen Produktmanagers mit einem ebenso männlichen Mediengestalter.

Im Produktmanagement kommt es häufig zu Wechseln und als ich Tina einige Jahre später das nächste Mal begegnete – in einem Animationsfilm für einen neuen Winterreifen sprang sie auf dem Snowboard aus einem Flugzeug – war sie eine andere geworden: irgendwie immer noch weiblich, aber androgyn und ohne jede sinnliche Fülle. Ah, dachte ich, Tina ist mittlerweile unter die Produktmanagerinnen gefallen, die haben sie erst mal ordentlich zurecht gestutzt und downgegradet. Tina war zur Catwoman geworden.

Vielleicht haben meine Kundinnen und Kunden in all den Jahren intuitiv gespürt, dass die Gestaltung eines weiblichen Avatars am Ende doch mehr ist als nur eine Geschmacksfrage. Jedenfalls hat sich bis heute niemand einen weiblichen Charakter gewünscht. Auch die Kundinnen nicht. Auch nicht, wenn sie unter sich waren und niemand ihnen rein geredet hätte. Und so steht es unter meinen Avataren beim Geschlechterverhältnis gefühlte 10:0 zugunsten der Männer. –

Wenn ich in einem Kick-off auf die Möglichkeit eines Avatars zu sprechen komme, erlebe ich fast immer interessierte Reaktionen. Ich stelle dann zunächst die Vorteile dar:

 

Mehr als nur eine „Auflockerung“

1. Durch ihre direkte Ansprache schlägt eine Figur leichter eine Brücke zwischen Training und Teilnehmern. In den USA ließ man zwei Lerngruppen gegeneinander antreten: die eine arbeitete sich ganz ohne einen „On-screen Agent“ durch den Stoff, die andere hatte Unterstützung durch „Herman den Käfer“.

Zwei Experimente brachten anschließend das gleiche Ergebnis: Die „Herman“-Gruppe schnitt in den Transfertests deutlich besser ab.[1]

2. Ein gutes Online-Training folgt einem Rhythmus aus An- und Entspannung. Jedem Didaktischen Designer sollte die Aufmerksamkeitskurve am Herzen liegen: Nach einer Phase der Konzentration müssen die Teilnehmer kurz durchatmen könne, bevor es weiter geht. Und dafür sind Avatare ideal. Meine Figuren lasse ich spätestens alle 4-5 Bildschirmseiten wieder auftreten. Im Plauderton fassen sie das gerade Gehörte und Gesehene noch einmal zusammen, ordnen ein und geben einen Ausblick auf das nächste Kapitel.

Um den positiven Effekt noch zu verstärken, erlaube ich ihnen auch einmal einen Scherz und lasse sie zudem nicht selten in einem überraschenden Dress oder mit passenden Acessoires auftreten. Die Figur wird zum Conférencier. Wenn die Teilnehmer bei der Gelegenheit zumindest schmunzeln, hat dieses Mittel schon seinen Zweck erfüllt und alle können anschließend konzentriert die nächste Etappe angehen.

3. Bei der großen Mehrheit der Teilnehmer kommen Avatare gut an. Das ist meine Erfahrung und Untersuchungen haben das bestätigt.[2]

Dazu sollte der Avatar hinsichtlich Alter, Auftreten, Kleidung und Wortwahl natürlich möglichst eng auf die Zielgruppe abgestimmt sein. Kreieren Sie keinen Jungschen mit juveniler Stimme und flappsiger Rede für ein gesetztes Publikum aus erfahrenen Ingenieuren! Da geht die ablehnende Haltung ganz schnell in offenen Protest über und Sie erreichen nicht nur nichts in punkto Lernerfolg, sondern machen auch noch ihre eigentlichen Auftraggeber unglücklich, weil die sich intern plötzlich manches anhören müssen.

 

Mach mehr aus deinem Typ! – Was Sie beachten sollten

1. Setzen Sie Ihre Avatare sparsam ein. Sie sollten im Training nicht ständig zu sehen sein, das lenkt nur ab und führt im schlechtesten Fall zu Überdruss beim Lernenden. Verschleißen Sie Ihre Figuren nicht; für den so wichtigen Eindruck der Anwesenheit reicht es völlig aus, wenn seine Stimme zu hören ist.[3]

2. Machen Sie es den Lernenden so leicht wie möglich sich, mit Ihrem Charakter zu identifizieren. Das geschieht noch am ehesten, wenn die Figur sich möglichst menschlich verhält, was die Körpersprache samt Blick und sprecher-synchronen Mundbewegungen (Lip snyc) anbelangt.[4] Das erfordert natürlich Aufwand. Sie sollten dem Kunden darum schonend, aber so früh wie möglich klar machen, dass ein – buchstäblich – ansprechender Avatar nicht zum Nulltarif zu haben ist.

Bei schmalem Budget: Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Fotoserie mit einem Echtmenschen häufig auch tut, solange der jeweilige Gesichtsausdruck zum Gesprochenen passt. Umso wichtiger dann sicher der Sprechertext; die Identifikation läuft in dem Fall hauptsächlich über ihn.

3. Was anstelle eines 2D- oder 3D-Charakters natürlich auch geht, sind Videoeinspieler mit einem Echtmenschen. Wenn es auf Kundenseite einen telegenen Fach-Experten mit samtiger Stimme gibt, so könnte jetzt seine große Stunde geschlagen haben.

Doch Vorsicht: Es ist eine häufige Erfahrung, dass sich eine eben noch lebhafte Person ganz plötzlich in ein verspanntes Nervenbündel verwandelt, sobald das rote Kameralicht angeht. Mit einem blassen Auftritt aber erreichen Sie nicht die gewünschte Wirkung (ganz im Gegenteil).

Anders als bei einer animierten Figur verlieren Sie hier also schnell die Kontrolle über das Ergebnis. (Und versuchen Sie dann mal, dem Kunden gegenüber von einem „nice try“ zu sprechen und dass Sie nun doch lieber auf eine animierte Figur zurückgreifen würden…)

4. Halten Sie mit ihren Kunden einen kleinen Workshop ab und entwerfen Sie die Figur gemeinsam. Zum einen kennen Ihre Auftraggeber die Zielgruppe wahrscheinlich immer noch besser als Sie. Vor allem aber macht das allen Beteiligten großen Spaß und erhöht die Identifikation am Ende noch.[5]

 

Der Celebrity-Effekt

Apropos Identifikation. Das Beste zum Schluss: Wenn es Ihnen gelingt, die Figur tatsächlich zum Leben zu erwecken und sie obendrein auch noch sympathisch erscheinen zu lassen, dann kann ein unerwarteter Effekt eintreten: Die Kunden schließen den Avatar ins Herz. Und sie holen ihn zu sich in die echte Welt.

Ungelogen: Während ich diesen Beitrag schreibe, kommt via Email die Anfrage nach Vektordaten für Avatar Felix; der Kunde möchten ihn gern auf der Hannover Messe am Stand präsentieren.

Felix ist kein Einzelfall. Ein anderer, Phil, steht heute als lebensgroße Figur aus beschichtetem Leimholz am Eingang einer internen Fortbildungsakademie. Er trägt eine Magnettafel, auf der die kommenden Kurse angekündigt werden. Phil ist so etwas wie ein Aushängeschild geworden.

Die Kette der Beispiele ist lang. Minimum ist, dass die Figuren in den Werbebroschüren wieder auftauchen.

Ein großer Finanzdienstleister gab eine vierteilige WBT-Serie fürs Autohaus in Auftrag. Zur Personalisierung der Inhalte entwarf ich mit dem Illustrator eine ganze Schar unterschiedlichster Typen. Das waren keine Avatare im eigentlichen Sinne, sondern eher Akteure, die leasen, finanzieren, eine Versicherung abschließen usw. Die prägnantesten von ihnen wurden später lebensgroß auf feste Pappe gedruckt und dienen seither als Statisten für Rollenspiele in den Präsenzschulungen.

Was will man mehr?

 

[1] R.C. Clark / R.E. Mayer: E-Learning and the Science of Instruction. 32011, S. 194

[2] Byron Reeves: The Benefits of Interactive Online Characters. Research Paper, Stanford 2004, S. 9: Research shows that over 90% of people can find a character in interactive sessions that they prefer over no character at all. (…) It is also important to note that a large majority of all users like characters; characters are not just for children and novices.

[3] Clark/Mayer (wie oben), S. 195

[4] Clark/Mayer (wie oben), S. 195

[5]  Bei der Durchführung solcher Workshops hat sich ein kleiner Fragenkatalog bewährt, den ich Ihnen auf Anfrage gern zusende.